O du schöne Zweidraht-Welt — Resterampe oder Renaissance?

Klappentext

Die Kommunikationswelt befindet sich im Wandel. In wenigen Jahren wird ISDN als Kommunikationsanschluss für Jedermann Geschichte sein, die Umrüstung auf ein IP-basiertes Telefonnetz schreitet voran. Die Omnipräsenz von Smartphones, die steigende Verbreitung von WLAN-Routern mit integrierten Telefoniefunktionen und die Möglichkeit von „Allnet-Flats“ sowie die immer besser werdende Mobilfunkabdeckung stellen die Konzept „Telefonanlage“ „Tischtelefon“ infrage. Doch wird bei diesen Trends nicht etwas übersehen?
Ich bin – kurz gesagt – unzufrieden mit der aktuellen Situation und versuche, mit diesem Artikel darzustellen, woher wir kommen, wo wir stehen und wohin die Entwicklung gehen könnte. In einem zweiten Artikel beschreibe ich, wie man die Situation meiner Ansicht nach verbessern könnte.

Von Vieldraht zu Zweidraht, von Telefon zu Systemtelefon

Mit der Einführung von ISDN und rechnergesteuerten TK-Anlagen wurden diese massentauglich. Wo zu analogen Zeiten Abfrageplätze noch Schuhkarton-große Anschaltgeräte und daumendicke Kabel zur Anbindung an die Anlage brauchten und Telefonanlagen selbst für kleine zweistellige Nebenstellenanzahlen ohne nennenswerte Systemfunktionen mehrere Schränke füllten, gibt es seit Mitte der 1990er Jahre TK-Anlagen, die in der Lage sind, jeden Teilnehmer mit einem Systemtelefon zu versorgen. Modernere Anlagen wie die Bosch Integral 3 bieten wiederum auf Schuhkartongröße eine komplette TK-Anlage.
Durch ISDN und die Einführung der Übertragungsschnittstellen S0 und der zweiadrigen Variante Up0 wurde vor Allem eines Standard: der einpaarige Teilnehmeranschluss. Telefone brauchten keine separate Spannungsversorgung: alles kommt aus der Anlage. Nach Belieben kann der Teilnehmer mit einem Port für ein Systemtelefon, a/b, DECT-Kanalelement oder – dann natürlich mit 2 Paaren – S0 versorgt werden.

Ethernet: Fortschritt durch Komplexität?

Nun, Ethernet und IP-basierende Netze außerhalb der Rechnerkommunikation zu verwenden ist die Zukunft, oder eher schon die Gegenwart. In der Regel werden Neubauten mit strukturierter Verkabelung ausgerüstet, Gebäude untereinander und tlw. sogar Etagen innerhalb desselben Gebäudes mit Glasfaser statt Kupfer verbunden. Die strukturierte Verkabelung klingt sinnvoll und Flexibilität ist das Verkaufsargument Nr. 1, aber wohin führt sie?
Sieht man der Realität ins Auge, sind vor allem bei großen Installationen die wenigsten Telefone diejenigen, die z. B. aufgrund des benötigten Datendurchsatzes einen Ethernetanschluss wirklich benötigen.
Die meisten Telefone haben S/W-Displays, teilweise nicht einmal Vollmatrix-Displays, oder – noch absurder – weder Display noch Funktionstasten.

In Summe wird mehr Kupfer benötigt. Pro Netzwerkport werden 8 Kupferadern verlegt. Bei der sog. TDM-Technik, also dem zweiadrigen Anschluss wie bei Up0, ließen sich mit 8 Adern 4 Up0-Ports realisieren. Siemens mit der Master/Slave-Schaltung bietet sogar die Möglichkeit, an einem Systemtelefon noch ein weiteres zu betreiben. Also 8 Systemtelefone ohne separate Spannungsversorgung an einem Netzwerkkabel.
Bei IP bieten manche IP-Telefone einen integrierten 1-Port-Switch, aber für ein zweites Endgerät wird dann direkt ein PoE-Injektor zur Spannungsversorgung fällig.

PoE-Injektoren und -Switches bringen zusätzliche Komplexität in die Installation, vor allem die Frage nach Notstromfähigkeit wird so komplexer.

IP-Telefone bringen aber auch mehr Komplexität an einer anderen Stelle: Der überwiegende Teil der IP-Telefone basiert auf einem eingebetteten Linux. Meist bieten sie ein Webinterface.

Aber was bedeutet das? In jedem Tischtelefon läuft ein general-purpose-Betriebssystem, bestehend aus etlichen Komponenten und Bibliotheken, basierend auf einem lediglich an die Prozessorarchitektur angepassten Linux-Kernel bishin zum Webserver, mit allen Problemen und (Sicherheits-)Schwachstellen.
Das ist einigermaßen verschmerzbar, wenn die zusätzliche Leistungsfähigkeit auch genutzt wird, zum Beispiel indem das Telefon in der Lage ist, dem Nutzer Daten aus dem Unternehmensnetz oder Internet anzuzeigen, Videostreams von Kameras abzuspielen, etc. Geräte wie das Grandstream GXV3275 nutzen das Potential direkt aus und eignen sich zusätzlich als WLAN-Router und Thinclient.

Doch die Realität zeigt: Anbindung externer Dienste an die VoIP-Telefone von TK-Anlagen sind meist komplex realisiert, es werden oftmals zusätzliche Server benötigt (die also genauso gut in der Lage wären, bspw. Webseiten in ein spezielles Format für Nicht-VoIP-Telefone zu wandeln) und im handelsüblichen Büro gibt es meist 2 Endgeräte dieser Klasse: das der Sekretärin und das vom Chef.

Zweidraht-Telefonie: Sackgasse oder Chance?

Systemtelefone auf Zweidraht-Basis (im Folgenden Up0) wirken mittlerweile wie ein verstoßenes Kind: praktisch kein TK-Anlagen-Hersteller betreibt hier noch Entwicklung. Aus Herstellersicht ist der Schritt leicht erklärt: Up0 ist eine Nische. Die Schnittstellenbausteine, die Entwicklung auf dieser Technologie, die Entwicklung dedizierter Telefon-Endgeräte, diese Felder erfordern spezielles Wissen, sind also teuer. Ethernet-Technologie und Linux-SoCs gibt es wie Sand am Meer und Entwicklung lässt sich billig einkaufen. Ob das System eine Webcam betreibt oder ein Telefon: die grundsätzliche Architektur und die Betriebssystembasis sind idR gleich.
Dabei müsste das garnicht so sein und es geht auch durchaus anders: vxWorks und QNX sind nur zwei Beispiele für sogar echtzeitfähige Betriebssysteme, die speziell auf eingebettete Systeme ausgerichtet sind und bspw. Alcatel hat für eine Serie ihrer IP-Telefone auf vxWorks gesetzt. Der Vorteil ist zum Beispiel eine erheblich kürzere Bootzeit. Aber auch die Kompetenzen werden vielleicht etwas sinnvoller verteilt und jeder macht das, was er gut kann: Der TK-Anlagenhersteller entwickelt und wartet eine Applikation für die Telefonie und überlässt die Wartung eines Betriebssystems jemandem, der Profi in diesem Bereich ist — und sich vor allem auch um die Sicherheit dieses Systems und Bereitstellung von Sicherheitsupdates kümmert.
Wirklich schön ist nämlich nicht, denn wenn der Hersteller spart, muss es der Kunde ausbaden:
Nicht jeder Kunde für eine TK-Anlage ist das Standard-Büro aus der Katalogwelt. Nicht jedes Gebäude verfügt über strukturierte Verkabelung. Und wenn eine Bestandsverkabelung vorhanden ist und bei 99% der Teilnehmer die einzige Anforderung „Telefonieren“ ist, warum dann so viel Komplexität ins Haus holen?
Zumal es mittlerweile so scheint, als sei jedes Linux-basierende Endgerät eine potentielle Gefahr für das Intra- oder Internet: ein Buffer Overflow hier, eine unzureichende Zertifikatsüberprüfung da und schon hat man 100 kleine Agenten auf den Schreibtischen stehen, die nach Belieben Telefonate abhören, mitschneiden können oder auch andere Geräte im Netzwerk angreifen oder aushorchen. Selbst Geräte bei denen man es als unbedarfter Nutzer nicht für möglich hält, wie zum Beispiel Drucker, sind so eine Gefahr.
Das wird durch den Trend „Internet of Things“ wird das gerade nochmal potenziert, und das Grundproblem fasst dieser Tweet schön zusammen.
Bestes Beispiel dafür, welche Gefahr davon ausgeht, ist der DDoS-Angriff auf Dyn im Okt. 2016, der von „Geräten im IoT-Bereich“ ausging. Überhaupt ist mangelnde Sicherheit (meist stammend von schlechter Upgradepolitik) eines der größten (ungelösten) Probleme dieser Geräteklasse.
Und werden Schwachstellen bekannt, hat der Kunde nicht einmal die Möglichkeit, diese zu beheben sondern ist darauf angewiesen, dass der Hersteller reagiert. Der hat aber vielleicht kein Interesse daran, zum Beispiel weil der Kunde seit 2 Jahren kein neues Softwarerelase für seine Anlage gekauft und somit sein „Recht“ auf Firmwareupdates verwirkt hat, oder weil die Endgeräte einfach generell „End of life“ sind. So wird dann ein Gerät, das noch sämtlichen Anforderungen gerecht wird und das man garnicht austauschen möchte, zum Sicherheitsrisiko.
Es ist auch aus ökologischer Sicht unverantwortlich, auf diese Weise den Neukauf von Geräten zu erzwingen, ohne dass der Kunde echten Mehrwert benötigt, aber die aktuellen ein akutes Sicherheitsrisiko darstellen.

Dazu kommt: bei den meisten Herstellern besitzt das Systemtelefon, was die Teilnahme am Systembetrieb angeht, wenig eigene Intelligenz. Displayinhalte, Funktionen der Funktionstasten, alles wird in der Anlage generiert. Über mehrere Generationen ist die Hardware und ihr direkter Funktionsumfang sogar praktisch gleich geblieben. Beispiel Siemens: Optiset E, Optipoint 500-Serie, OpenStage TDM-Serie. Es gibt funktional kaum Innovationen (Display-Hintergrundbeleuchtung, Displaytechnologie, Anzahl und Art der Funktionstasten), über Generationen hinweg. Dafür aber stetige Einsparungen im Produktionsaufwand, auf Kosten der Langlebigkeit der Geräte, wie zum Beispiel die Bevorzugung von bedruckten Gummitastaturen gegenüber Kunststoffeinsätzen wie beim Optiset E.
Wenn es auch leichte Veränderungen gab; „moderne“ Anwendungen werden tendenziell dazu genutzt, IP-Endgeräte zu verkaufen, obwohl z. B. die OpenStage 40-TDM-Geräte mit ihren Vollgrafik-Displays für eine ausgefeilte Interaktion mit dem Nutzer geeignet wären.
Obwohl ISDN grundsätzlich bereits HD-Audio, z. B. mit dem Codec G.722, auch als „7 kHz-Telefonie“ bezeichnet, unterstützt, ist mir keine TK-Anlage bekannt, die das am Systemtelefon unterstützt.
Leider wurde bei der Verbreitung von ISDN versäumt, dies als Alleinstellungsmerkmal prominenter zu platzieren und Telefonie mit 3,1 kHz Bandbreite als „alt“ zu vermarkten.
Ggf. wäre es also möglich, auch hier durch vergleichbar wenig Änderungen an den Geräten eine deutliche Qualitätsverbesserung im Telefonieren herbeizuführen.
Aber letztendlich: das Systemtelefon ist in den meisten Fällen ein Terminal, und so sollte es generell möglich sein, auch funktionalen Mehrwehrt durch ausgefeiltere Software zu ermöglichen.

Telefon: quo vadis?

Die Kommunikationswelt verändert sich. Nicht nur Mobiltelefone sind omnipräsent, sondern Smartphones sind ebenfalls als allgegenwärtig anzusehen, „Jeder“ hat eins und in der Regel auch eine Anbindung an schnelle mobile Datennetze. Das Telefonat verliert jedoch an Bedeutung.
Ein Faktor mag sein, dass gerade bei günstigen Angeboten zwar in irgendeine Form Flatrates für mobiles Internet enthalten sind, Telefonate aber in der Regel Geld kosten – eine Allnet-Flat ist teuer. Zudem fördern soziale Netze die Affinität zum Schreiben kurzer Nachrichten gegenüber von Telefonaten.
Es fühlt sich leichtgewichtiger an, „mal eben“ eine Nachricht zu tippen statt sich Zeit für ein Telefonat zu nehmen.
Für verschiedene Anwendungsfälle mag das stimmen, zum Beispiel für das Übermitteln von Statusinformationen, gerade an eine Gruppe. Viele schätzen als Vorteil, dass es ein „Log“ gibt und man somit immer nachvollziehen kann, was besprochen wurde.

Fakt ist aber: diese Plattformen versagen sämtlichst daran, dies in archivierfähiger Weise zu tun.
Zunächst einmal sind alle „öffentlichen“ Plattformen von privaten Dienstleistern abhängig (Twitter, Slack, Facebook, Snapchat, WhatsApp, etc.). Privates und Geschäftliches ist nicht getrennt und vor Allem bedeutet „Konversation“ in der Regel, dass Nachrichten als quasi-endloser Strom von Nachrichten dargestellt werden und es kaum sinnvolle Suchmöglichkeiten gibt.

Das Schreiben von Textnachrichten fühlt sich leichtgewichtiger an, aber oft löst ein kurzes Gespräch Probleme deutlich effizienter. Meiner Ansicht nach ist es sinnvoller, beide Parteien nehmen sich vielleicht 2 Minuten Zeit, einen Sachverhalt bei voller Aufmerksamkeit zu klären, statt über 10 Minuten immer wieder Nachrichten auszutauschen, und somit bei keiner Sache voll dabei zu sein. Dann doch lieber eine Diskussionskultur pflegen bzw. wieder aufbauen, indem man am Ende eines Telefonats das Ergebnis zusammenfasst, falls es archivierungswürdig ist, oder das Gespräch oder Teile davon direkt von der TK-Anlage archivieren lässt.

Innerhalb von Ansätzen wie „Bring your own device“ gibt es ja auch Bestrebungen, komplett auf hausinterne Telefonie zu verzichten, den Mitarbeitern ggf. Handy-Verträge zu bezahlen und komplett mit Mobiltelefonie zu arbeiten. Ich sehe aber das Telefon eher als Teil der Infrastruktur des Ortes, an dem mich gerade befinde. Warum soll ich z.B. die Intelligenz, Licht und Heizung meines Arbeitsplatzes zu steuern, mit mir herum tragen?
Warum muss ich selbst Telefonnummern von etlichen Mitarbeitern verwalten, wenn diese Informationen zentral vorgehalten werden können, ich statt konkreten Personen „Dienststellungen“ („Das Lager“, „Der Empfang“,…) anrufen kann und diese mit zusätzlichen Metadaten versehen sein können (Empfang anrufen, Fr. Müller aktuell im Urlaub, vertreten durch Hrn. Maier)?
Warum muss ich mein Smartphone aus der Hosentasche holen, am Rechner zum millionsten Mal „Wetter Köln heute“ bei Google eingeben, wenn genau diese Informationen auf einem Gerät präsentiert werden können, das sowieso auf meinem Schreibtisch steht?
Was spricht also dagegen, das Tischtelefon als „Begleiter“ zu erfassen? Welche konkreten Funktionen dieses Gerät erfüllen soll, überlegt man sich ein Mal, und dabei kann es auch bleiben. Diese Funktionen erfüllt es dann immer, es gibt keine „Apps“, die man schließen oder extra öffnen muss. Somit bleiben Smartphone und PC frei von Onlineverläufen, Aktivitäten meiner Chatpartner und Telefonate auf anderen Leitungen.

Die derzeiten Lösungen auf dem „freien Markt“ reichen hier noch längst nicht aus, hier ist noch viel Arbeit für eine durchgängige Interoperabilität zu leisten. Es ist zum Beispiel naheliegend, dass ein Mitarbeiter ein laufendes Gespräch vom Handy aufs Tischtelefon weiterreichen möchte, wenn er von einem Außentermin zurückkommt.

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2 Antworten zu O du schöne Zweidraht-Welt — Resterampe oder Renaissance?

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