Den Anstoß zu diesem Beitrag gab mir ein Artikel der bei ZDF Heute erschien. Leider enthält der Artikel einige Ungenauigkeiten, das hätte ich von Peter Welchering so nicht erwartet. So wird unter anderem von ISDN und Internet-Zugang mit 384 kBit/s gesprochen. 384 kBit/s sind mit ISDN nicht realisierbar. Über einen ISDN-Anschluss sind 64 kBit/s möglich, 128 kBit/s bei Kanalbündelung. Es lassen sich z. B. noch Standleitungen realisieren, dort sind dann 2 MBit/s möglich. Vermutlich ist hier aber der Internetzugang mit sog. „DSL light“ gemeint. Die Grundaussagen des Artikels bleibt aber wahr, und es ist nicht das erste mal, dass ich davon höre.
- Es gibt Regionen in Deutschland, die auch im Jahr 2019, wenn, dann nur über eine bruchstückhafte Versorgung mit Mobilfunk verfügen. Wir reden hier von ganz schnöder Telefonie, von 3G oder gar LTE ganz zu schweigen.
- „Schnelles“ Internet ist, wenn überhaupt, nur mit der kleinstmöglichen Variante, 384 kBit/s, möglich, dem so genannten „DSL light“. Dabei handelt es sich um Gegenden, die z. B. aufgrund der großen Entfernung zur nächsten „Schaltstelle“ eigentlich nicht per ADSL zu versorgen wären, wo man aber eine Reduktion der Geschwindigkeit (ADSL startete in Deutschland mit 768 kBit/s im Downstream) in Kauf nimmt, um so immerhin einen Internetzugang zu realisieren, der schneller als ISDN ist. Es gibt allerdings auch Regionen in Deutschland, in denen bis heute kein DSL-Anschluss verfügbar ist. Wenn es einen Internetzugang gibt, dann über wackelige Richtfunkstrecken, die oft von privaten Initiativen gebaut worden sind, die oft nur wenige MBit/s liefern und dann noch von einigen Parteien geteilt werden.
- Falls das alles nicht verfügbar ist, läuft der einzige Zugang zum Internet per ISDN. Per Einwahl. Wie in den 1990ern. Bis jetzt.
Was passiert da aktuell?
Die Telekom will das Kernnetz für ISDN abschalten. Das ist grundsätzlich ein Prozess, der nicht nur die Telekom und nicht nur Deutschland betrifft.
Die Technik (Vermittlungsstellen), die hier auf Provider-Seite im Einsatz ist, ist seitens der Hersteller seit Jahren abgekündigt. Dadurch ist die Ersatzteilversorgung nicht mehr garantiert. Es heißt, ganze Vermittlungsstellen werden schon aufgrund kleinerer Defekte außer Betrieb genommen. Die Telekom hat größtenteils die Produkte Siemens EWSD und Alcatel (früher SEL) S12 im Einsatz. Die Hardware entspricht dabei nicht mehr dem Stand der Technik. Es heißt, auch Stromverbrauch sei ein Thema.
ISDN konnte einst das Versprechen einlösen, unterschiedlichste Kommunikationsnetze in einem, volldigitalen, Netz zu vereinen. Mit dem Aufkommen von (A)DSL jedoch wurde ISDN bereits etwas dieses Sinnes beraubt, denn ISDN, so wie es im Einsatz war, konnte keine hohen Geschwindigkeiten für den Endkunden liefern, wie es ADSL vom Fleck weg ermöglicht hat. Eine Weiterentwicklung war zwar angedacht, kam aber über Pilotversuche nicht hinaus.
Insofern mussten fortan zwei Infrastrukturen parallel betrieben werden. Mit den Jahren wuchsen die Geschwindigkeiten und die Hardware wurde erschwinglich, um Voice over IP in der Masse zu realisieren. Zwar wurden IP-Telefone für den Endverbraucher noch nicht populär, aber die Technik war bereits so erschwinglich, dass sie in Router für den Heimbereich eingebaut werden konnte.
Einer der ersten Router dieser Art, der auch weite Verbreitung erreichte, war die FRITZ!Box Fon (WLAN), die etwa 2004 auf den Markt kam.
Zusätzlich verlor der klassische Telefonanschluss an Bedeutung, dank Internet-Flatrates und Diensten wie Skype wurde auch Telefonie im Sinne von „Audio-Gespräch“ bei beliebigen Entfernungen kostenlos.
Der Bedarf an immer schnelleren Internet-Anschlüssen war nur zu realisieren, indem die Länge des Kupferkabels zwischen Provider und Kunde immer weiter verkürzt wird. Das war irgendwann aus der Vermittlungsstelle heraus nicht mehr möglich. Damit begann der Prozess, dass überall am Straßenrand deutlich größere „graue Kästen“ aufgestellt wurden, bei der Telekom Multifunktionsgehäuse (MFG) genannt. Diese Gehäuse sind per Glasfaser an die Vermittlungsstellen angebunden und enthalten mitunter „VDSL-Modems“ (DSLAM), um die Gegenstelle zum Kunden zu bilden.
Mit diesem Schritt setzte letztlich eine Runderneuerung der aktiven Technik des Telefonnetzes ein. Der Kunde soll nur noch einen (V)DSL-Anschluss bekommen und sich dann die Dienste buchen können, die er benötigt. Neben Telefonie und Internetzugang kam Fernsehempfang dazu und dies wurde bzw. wird noch als „Triple Play“ vermarktet.
Das Telefon: vergessen
Der klassische Telefonanschluss blieb hier jedoch zunächst auf der Strecke. Für (nominell) einen Großteil der Kunden mögen die bis dahin vorgesehenen Dienste ausreichend sein, aber es gibt einige Probleme und generelle Veränderungen, auf die ich eingehen möchte und die oft verschwiegen werden.
Zu allererst: VoIP-Telefonie hat Vorteile gegenüber klassischer Telefonie. Im wesentlichen sehe ich:
- HD-Audio
- Lange Zeit war das Telefonnetz mit 3,4 kHz Bandbreite bei der Audioübertragung beschränkt. Dieser Wert stammte aus grauer Vorzeit, in der Kohlemikrofone eingesetzt wurden, die eine größere Bandbreite nicht leisten konnten, hier entstand der typische „Telefonklang“. Im Mobilfunknetz 3G wurde zuerst ein Breitband-Codec populär (AMR-WB), der z. B. als „HD Audio“ bezeichnet wird. Im LTE-Netz werden zunehmend Telefonate auch als VoIP abgewickelt, dort ist diese HD-Telefonie noch stärker verbreitet. IP-Telefone unterstützen HD-Telefonie schon länger, auch mit noch weiteren Codecs.
- Flexible Zuteilung von Sprachkanälen
- Bei ISDN sind technisch Sprachkanäle nur in Einheiten von 2 Sprachkanälen (S0) oder 30 Sprachkanälen (PMX) möglich. Mit VoIP sind hier flexiblere Modelle möglich, auch asymmetrisch; viele Anbieter ermöglichen das Zubuchen einzelner Sprachkanäle, oft sogar monatlich zu ändern.
- Nomadische Nutzung
- Ein klassischer Telefonanschluss ist auf das Adernpaar beschränkt, auf das er aktuell physisch geschaltet ist. Ist die Leitung gestört, ist der Anschluss nicht nutzbar. Bei VoIP-Anschlüssen wird das Internet als Basisdienst genutzt, damit sich die Gegenstelle des Kunden bei der Gegenstelle des Providers registrieren und für Telefonieverkehr bereit zeigen kann. Dabei spielt es keine Rolle, wo sich die Gegenstelle des Kunden physisch befindet, solange sie Zugang zum Internet hat.
- Bei VoIP benötigt man keine Telefonanlage mehr, oder die Telefonanlage kann „im Netz“ sein.
- SIP ist ein offener Standard und setzt auf dem TCP/IP-Stack auf. Das ist deutlich einfacher als die überladene ISDN-Spezifikation.
Dem gegenüber stehen allerdings folgende Punkte:
- VoIP ist keine zwingende Voraussetzung für HD-Audio
- Es ist nicht korrekt, dass VoIP für HD-Audio erforderlich ist. Technisch ist das bereits im ISDN möglich, der bei VoIP häufig genutzte Audio-Codec G.722 stammt aus den 1980ern und kann auch im ISDN genutzt werden. Leider gibt es nur praktisch kein Endgerät, dass das unterstützt. Allerdings ist über etliche Jahre bereits ISDN zur Übertragung von hochqualitativen Audiosignalen genutzt worden, nämlich zum Beispiel bei Radiosendern zur Einbindung von Außenstellen auf Veranstaltungen. Ein bekanntes System in diesem Bereich war das Musiktaxi.
- Die nomadische Nutzung wird seitens der Provider oft aktiv verhindert, insbesondere von den Großen (Vodafone, Telekom).
- Der de-facto-Standard für VoIP, SIP, liegt im Leistungsumfang deutlich hinter dem, was bei ISDN seit den 1980ern üblich war. Vor allem zeigt sich auch heute, etwa 15 (!) Jahre nach der Verfügbarkeit für die Masse, dass es zu viel Interpretationsspielraum der RFCs gibt, für dasselbe Leistungsmerkmal unterschiedliche (inkompatible) Implementierungen, existieren, usw.:
- ISDN unterstützt Blockwahl und überlappende Wahl. SIP nur erstere, für überlappende Wahl gibt es nicht-standardisierte Varianten der Signalisierung, die nicht geräteübergreifend funktionieren müssen.
- Leistungsmerkmale wie Rückruf bei besetzt und Anrufweiterleitung im Amt können nicht durch Endgeräte gesteuert werden, weil es hierfür keine festgelegten Verfahren gibt.
- Selbst für die Übermittlung von DTMF-Tönen sind aktuell drei verschiedene Verfahren im Einsatz.
- ISDN bietet eine garantierte maximale Rufaufbauzeit, die danach spezifiziert wurde, wie lange es dauert, den Handapparat vom Telefon zum Ohr zu führen. (Anm.: Hier bin ich aktuell noch auf der Suche nach einer Quelle)
- Auch bei ISDN sind Fallbacks realisierbar, wenn auch etwas aufwändiger (mit Rufumleitungen / CLIP no screening).
- ISDN stellt leitungsvermittelte Verbindungen zur Verfügung. Das bedeutet: steht eine Verbindung, ist die Datenrate für die Dauer der Verbindung fest verfügbar, Schwankungen in der Übertragungsgeschwindigkeit treten damit praktisch nicht auf (Jitter). Telefonie ist somit mit einer konstant geringen Verzögerung realisierbar.
- Bei ISDN kommt die Speisung für den Endpunkt des Netzes (NTBA) mit aus der Vermittlungsstelle, die auch genügt um ein Telefon daran zu betreiben. Man kann bei Stromausfall weiterhin telefonieren. Heute ist der Kunde selbst dafür verantwortlich, es wird seitens der Provider auch aktiv geraten, sich eine USV anzuschaffen.
- In der Praxis werden VoIP-Netze selten „nackt“ eingesetzt. Speziell größere Installationen sehen sich der Anforderung gegenüber, das z. B. zwischen unterschiedlichen Audiocodecs transkodiert werden muss, oder dass Audioströme ver- bzw. entschlüsselt werden müssen. Dazu kommt das Problem, dass man aus Sicherheitserwägungen nicht möchte, dass SIP-Endgeräte, die schließlich direkt im Firmennetz arbeiten, mit anderen Endpunkten im Internet direkt kommunizieren können. Oft weist die Firmware von VoIP-Telefonen erhebliche Sicherheitsmängel auf, sodass das VoIP-Netz von einer zentralen Instanz gegenüber dem Internet abgeschirmt werden soll, meist als Session Border Controller (SBC) bezeichnet. Somit ist dann doch wieder eine zentrale Instanz notwendig, die alle Telefone koordiniert.
- ISDN ist ein „richtiger“ Standard, in europäischen (ETSI) und internationalen (ITU-T / CCITT) Normen festgeschrieben, manche Dokumente mögen nicht einmal öffentlich zugänglich sein. Es mag sicher so sein, dass die RFCs fürs TCP, UDP, IP und SIP sich viel leichter lesen und auch deutlich kompakter sind. Aber die Praxis zeigt: RFCs so zu implementieren, dass die eigene Implementierung problemlos mit den Implementierungen aller anderen zusammen arbeitet, ist extrem aufwändig. Oft wird der TCP/IP-Stack als hervorragendes Beispiel für diese einfachen und einfach verständlichen „Standards“ zitiert. Die Realität zeigt jedoch: man nimmt entweder eine „Standard-Implementierung“, die bereits millionenfach im Einsatz ist, oder man muss viel Zeit und Arbeit investieren, um Fehler in der eigenen Implementierung zu beheben oder Ausnahmebehandlungen zu implementieren, um mit den fehlerhaften Implementierungen anderer Endpunkte zusammenarbeiten zu können (siehe https://news.ycombinator.com/item?id=12021195). Ähnlich sieht es bei SIP aus. Es gibt viele Ungenauigkeiten und Wahlmöglichkeiten, sodass die Interoperalität zwischen Systemen verschiedener Hersteller kaum zu gewährleisten ist. Das ging sogar so weit, dass sich das SIP Forum zusammengefunden hat, um ein genauere Regeln festzulegen, wie SIP gesprochen werden soll (SIPConnect).
Die Telekom schreitet voran mit dem Rückbau von ISDN. Aus ihrer Sicht ist das grundsätzlich nachvollziehbar, denn es gilt, veraltete Gerätschaften und eine doppelte Infrastruktur abzuschaffen. Auf Seiten der Kunden sieht es jedoch anders aus. Im Telefonanlagen-Markt waren Amtsanbindungen per ISDN absolut Stand der Technik, und aufgrund der Unzulänglichkeiten von SIP-Anschlüssen, gepaart mit der Tatsache, dass insbesondere die Telekom erst sehr spät eigene Produkte auf den Markt gebracht hat, hatten Kunden wenig Anreize für die Umstellung. Wie der eingangs verlinkte Artikel zeigt, wird mit dem Abschalten von ISDN-Anschlüssen nicht einmal Halt gemacht, wenn keine adäquaten Alternativen zur Verfügung stehen und Kunden sogar Produkte empfohlen, die technisch am Standort nicht realisierbar sind.
Darüber hinaus, ich erwähnte es, wurde ISDN schon immer für mehr als telefonieren genutzt. Das betrifft insbesondere die Kommunikation von Geräten, die zur kritischen Infrastruktur zählen. Pumpstationen, Aufzugnotruf-Anlagen und insbesondere Brandmeldeanlagen mit Feuerwehr-Aufschaltung sind Systeme, die sich seit Jahrzehnten auf etwas verlassen, das dass neue Netz so nicht mehr bietet: Garantien und ein hohes Maß an Dienstgüte.
Für Brandmeldeanlagen genügte in den meisten Fällen, die Alarmaufschaltung der Feuerwehr über einen ISDN-Anschluss zu realisieren, der von Bosch oder Siemens überwacht wurde. Mit der Umstellung auf VoIP gibt es keine vergleichbaren Alternativen und es werden meistens mindestens (!) zwei Kommunikationswege für die Anlage vorgeschrieben.
Das ISDN ist ausgelegt auf eine Verfügbarkeit von 99,99999% im Jahresmittel. Mit der Umstellung auf einen neuen AllIP-Vertrag akzeptiert jeder Telekom-Kunde (egal ob Privat- oder Geschäftskunde!) eine Verfügbarkeit von 97%. Das bedeutet eine Verschlechterung von „Ausfall <1 Min./Jahr“ auf „über 10 Tage/Jahr ist OK“.
Mit anderen Worten: Ein Anschluss kann jedes Jahr 10 Tage am Stück ausfallen, und man darf dann noch nicht einmal von einer Störung sprechen.
Oder, um es so auszudrücken: unser Kommunikationsnetz wurde mit der Modernisierung von der höchsten Klasse von Hochverfügbarkeit zur Nicht-Hochverfügbarkeit deklassiert (vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Hochverfügbarkeit).
Wann immer ich Vorteile von ISDN erwähne, bekomme ich zu hören „ISDN ist alt und überholt, deswegen gehört es abgeschafft.“ Sicherlich enthält der Standard vieles, das heute nicht mehr benötigt wird. Dennoch tut sich SIP bis heute schwer daran, überhaupt den Leistungsumfang zu erreichen, den ISDN schon Jahrzehnte hatte, von „neuen Features“ ganz zu schweigen. Ich könnte mich damit eher abfinden, wenn nun alles an Telefonie grundsätzlich über SIP abgewickelt wird, und alte Zöpfe abgeschnitten werden, und vor allem ein ähnlich hohes Verfügbarkeitsmaß realisiert wird. Stattdessen macht man aber – wie bei der Einführung von ISDN – abermals den Fehler, und setzt als Alternative auf „POTS“, also der schnöden analogen Telefonie von der Jahrhundertwende. Diese bringt meiner Ansicht nach ein paar ganz entscheidende Nachteile mit, von denen besonders die Menschen betroffen sind, die „einfach nur telefonieren“ wollen.
Das Problem mit Oma Finchen
Lange Zeit hieß es, die wenigen Kunden, die ausschließlich telefonieren wollen, bekämen dann eben trotzdem einen DSL-Anschluss und Router. Das Problem mit „Oma Finchen„, also insbesondere älteren Menschen, die wirklich einfach nur telefonieren wollen und absolut nicht in der Lage sind, einen Internetrouter zu konfigurieren oder zu warte, wurde dann aber doch so groß, dass man hier einen alternativen Weg ging.
Die Geräte in den Multifunktionsgehäusen, die aus Glasfaser die VDSL-Anschlüsse machen, heißen MSAN (=Multi Service Access Node). Diese Geräte werden mit Glasfaser versorgt und können unterschiedliche Dienste anbieten, indem man sie mit sog. Linecards bestückt. Neben dem Standardfall, VDSL-Linecards, setzt z. B. die Telekom nun auch POTS-Linecards ein, also Baugruppen, die einen klassischen analogen Telefonanschluss zum Kunden liefern können. Was aber verschwiegen wird: die Hersteller dieser MSANs bieten neben DSL und POTS auch Linecards für ISDN an. Mit anderen Worten: auch nach der Abschaltung des ISDN könnten die Provider über diesen Weg weiterhin, über die moderne Kerninfrastruktur, ISDN zum Endkunden liefern.
Das wäre nicht nur für Geschäftskunden gut, die mit ihrer TK-Anlage einfach nur telefonieren wollen, und deren Verkabelungssituation eine moderne IP-Telefonanlage ggf. überhaupt nicht zulässt oder die mangels entsprechender Internetanbindung (siehe oben) weder VoIP noch Cloud-Telefonie nutzen können.
Auch „Oma Finchen“ könnte hiervon profitieren, denn POTS hat ein paar entscheidende Nachteile gegenüber ISDN:
- Wir wissen, dass ältere Menschen möglichst lang noch zu Hause wohnen möchten und dies eigentlich auch müssen, da Pflegeheim-Kapazitäten im Hinblick auf die immer älter werdende Bevölkerung dem nicht gewachsen sind. Dabei ist gerade die telefonische Erreichbarkeit sehr wichtig.
- Seit Jahren sind Systeme wie Hausnotruf etabliert. Sei es der „richtige“ Hausnotruf mit Alarmierung eines Pflegedienstes, mittlerweile gibt es aber auch ähnliche Lösungen, die auf Knopfdruck oder bei Ereignissen wie Umfallen voreingestellte Rufnummern (Verwandte, Nachbarn, etc.) anrufen können.
- Ältere Menschen können dazu neigen, Telefonhörer nicht richtig aufzulegen, Mobilteile nicht auf die Ladeschale zu stellen, oder, bei Ende des Telefonats den „Auflegen“-Taster nicht zu drücken.
Es gibt diverse Möglichkeiten, die dazu führen, dass der Leitungszustand „abgehoben“ bleibt. Man kann denjenigen nicht anrufen, da bei POTS die Leitung nicht getrennt werden kann. Anders ist das bei ISDN, hier gibt es eine gesicherte Signalisierung: legt der Gesprächspartner auf, weiß auch das eigene Endgerät durch eine Mitteilung der Vermittlungsstelle, dass das Gespräch beendet ist und „legt auf“, ähnlich wie das bei einem Handy der Fall ist. Der Teilnehmer ist also wieder erreichbar. Doch selbst wenn eine Leitung belegt ist, kann der 2. B-Kanal hier Abhilfe schaffen und man kann trotzdem noch anrufen.
Das absurde daran ist: Über ISDN sagt man, es sei veraltet und müsse deswegen abgeschafft werden, den Telefonanschlusstyp aus dem 19. Jahrhundert hält man aber am Leben.
Wie gesagt: die Abschaffung von alter ISDN-Vermittlungstechnik ist kein Grund, dem Kunden nicht weiter ISDN als Anschlusstyp liefern zu können; dann müssten sich die Kunden nicht zahlreiche neue Telefonanlagen oder ISDN-Gateways kaufen/mieten. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt…
Praktische Probleme durch Abschaffung des Parallelnetzes
Mit den MSANs gibt es dann jetzt also wieder „alles über ein Netz“. Moderner als das alte soll es sein, und besser. Ich sehe jedoch nur immer wieder die Zahl von 10 Tagen, die mein Anschluss jedes Jahr kaputt sein darf, ohne dass ich einen Grund habe, mich zu beschweren. Und ich sehe Logs diverser Router, die immer mal wieder nachts, teilweise mehrfach, neu synchronisieren. Und man darf an der Stelle nicht vergessen, dass DSL erfordert, dass beide Gegenstellen erst ermitteln müssen, welche Frequenzen auf der Leitung genügend Potential zur Datenübertragung bieten, bevor Datenübertragung möglich ist. Je nach Leitungsqualität kann ein Synchronisationsvorgang Minuten dauern.
In den Jahren, in denen ich mit ISDN-Amtsanschlüssen gearbeitet habe, dauert es nach dem Anschluss in der Regel wenige Sekunden, bis ein Anschluss nutzbar ist. Hier gibt es keine Passwörter, keine „Provisionierung“, kein Webinterface, kein DHCP, kein Firmwareupdate, nichts. Einfach einstecken und sofort erreichbar sein.
Und heute? Tja, blinkt das DSL-Lämpchen am Router, geht nichts mehr, man ist auf das Handy angewiesen, das wie selbstverständlich vorausgesetzt wird, bzw. direkt das Smartphone, damit man die Störungsmeldung über das Onlineportal abwickeln kann.
Doch was, wenn aus Rationalisierungsgründen VoIP/DSL und Mobilfunk dieselbe Infrastruktur nutzen und beides gleichzeitig ausfällt (auch das habe ich schon erlebt)?
Spricht man das Thema Notruf an, heißt es „Wenn der Festnetzanschluss gestört ist, nehmen Sie doch einfach Ihr Handy für den Notruf“. Tja, das muss wohl die Zukunft sein, von der immer alle reden. Und großflächige Ausfälle sind kein Hirngespinst, sondern bereits Realität geworden. Allein im Juli 2019 gab es in Hessen eine großflächige Störung, durch die 110 und 112 über Stunden nicht erreichbar waren.
Fazit
Das war jetzt eine ganze Menge Text, daher möchte ich die Kernaussagen einmal zusammenfassen, wie ich die gegenwärtige Entwicklung sehe bzw. was mich daran stört:
- ISDN wird abgeschafft, am meisten Vorteile, v.a. Einsparungen, haben jedoch die Provider.
- ISDN wird als veraltet und überholt abgetan. SIP ist heute noch nicht auf dem Stand, auf dem ISDN schon immer war, und wird es so schnell auch nicht werden.
- Zeitgleich hält man aber den analogen Telefoniestandard am Leben, der in der Praxis nochmal deutliche Nachteile mit sich bringt
- Es ist technisch machbar, den ISDN als Anschlusstyp weiterhin anzubieten, das wird aber nicht gemacht.
- VoIP wird in den Markt gedrückt, aber viele Vorteile, die von VoIP/SIP beworben werden, treffen in der Praxis nicht oder eingeschränkt zu
- Die Umstellung geschieht mit seinem so hohen Druck, dass die alten Strukturen abgebaut werden, selbst wenn die neue Infrastruktur nicht zur Verfügung steht. Die Leidtragenden sind auch hier wieder die Kunden.
- Generell gibt es einen enormen Rückschritt in Sachen der Ausfallsicherheit unseres Kommunikationsnetzes, der verschwiegen wird. Es ergeben sich zusätzliche Aufwände und Kosten für Kunden und ungelöste Probleme werden tot geschwiegen („Wenn das Festnetz nicht geht, dann nehmen Sie doch einfach ihr Handy.“)
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